Wenn man am vergangenen Mittwochmorgen am Pressestand – den gibt es auch im Jahr 2016 noch – die Titelseiten der einschlägigen Tageszeitungen begutachtete, schlug einem unweigerlich ein Wort entgegen: „Angst“. So lautete die Schlagzeile der BILD-Zeitung am Tag nach dem Anschlag von Berlin. Eine erste Reaktion auf die Nachricht vom Anschlag könnte tatsächlich ein Stück weit Angst gewesen sein. Müssen wir nun Angst haben? Allem Anschein nach will die BILD-Zeitung ein in diesem Eindruck bestätigen. Doch Angst macht machtlos, Angst lähmt. Angst führt zum Rückzug und zur Isolation. Angst kann keine Antwort auf den Anschlag sein.
Neben Angst hätte man auf die Nachricht vom Anschlag hin auch Wut empfinden können. Wut auf den Attentäter. Wut auf Islamisten. Wut gibt einem ein Gefühl der Stärke. Wut signalisiert einem selbst: „Ich bin im Recht!“. Wut aktiviert und energetisiert. Wut treibt einen auf die Straße. Darum sprang die AfD sofort auf dieses Gefühl auf. Doch Wut spaltet die Menschen in ein „die“ und „wir“ – und das oft entlang zahlreicher Konfliktlinien, auch innerhalb der eigenen Familie. Zudem treffen Wütende selten kluge Entscheidungen. Wut kann also auch keine Antwort auf den Anschlag sein.
Das dritte Gefühl hätte dann eine Mischung aus Trauer und Bestürzung sein können. Trauer ist ein soziales Gefühl, das uns mit anderen verbindet. Der Trauernde will manchmal allein gelassen werden. Doch an sich ist Trauer ein Ruf nach Nähe. Trauer verbindet. Und so wäre „Trauer“ eine deutlich bessere Schlagzeile auf der BILD-Zeitung vom Mittwochmorgen gewesen.
Doch was kommt nach der Trauer? Angst, wie die BILD-Zeitung proklamiert? Oder Wut, wie die AfD sie propagiert? Die Antwort kann lauten: Keines von beiden. Denn die Botschaft des Attentäters an uns lautet: „Fürchtet Euch!“ und „Seid wütend!“ Angst und Wut sind genau das, was der Attentäter erreichen wollte. Woher wissen wir das? Er hat uns das quasi selbst gesagt:
(1) LKW als Waffe: Vielleicht hat sich manch einer gewundert, warum der Attentäter nicht seine Schusswaffe auf die Besucher des Weihnachtsmarktes gerichtet hat. Schließlich hat er damit doch den polnischen LKW-Fahrer getötet. Die Antwort auf diese Frage lautet „Angst“. Denn Schusswaffen begegnen uns im Alltag selten. LKWs hingegen ständig. Was also macht uns mehr Angst? Den Menschen in Deutschland deutlich machen, dass potentiell jeder LKW gefährlich ist? Oder den Menschen deutlich machen, dass Schusswaffen gefährlich sind? Der Attentäter wusste sehr genau, was er uns mitteilen will.
(2) Der Ausweis als Botschaft: Bestimmt hat sich jeder gewundert, warum der Attentäter seinen Asylbewerber-Ausweis im LKW zurückgelassen hat. Die Antwort auf diese Frage lautet „Wut“. Denn in Deutschland leben seit 2015 sehr viele Asylbewerber. Den Menschen in Deutschland einzureden, dass alle diese Menschen potentiell gefährlich sind, soll neben Angst vor allem Wut auslösen. Wut auf die „Undankbaren“. Dann auch Wut auf die, die sich vor die Asylbewerber stellen. Schließlich Wut auf Menschen, die anders sind als man selbst. Diese Wut soll spalten und zerstören: Freundschaften, Familien, unser Land, die westliche Welt – vor allem aber: unsere liberale westliche Lebensweise. Der Attentäter wusste auch hier, was er erreichen will.
Wie soll also unsere Antwort auf den Anschlag in Berlin lauten? Im Grunde muss das jeder für sich selbst entscheiden. Die Antwort kann aber - ganz weihnachtlich - lauten: „Fürchtet Euch nicht!“ Denn wir hier haben eine Wahl. Wir können uns dazu entscheiden, uns nicht einschüchtern zu lassen; uns keine Angst machen zu lassen. Wir können uns bemühen, nicht über Gebühr wütend zu sein. Wir haben die Wahl, unsere liberale westliche Lebensweise zu bewahren und nicht der Angst und der Wut preiszugeben. Und wir haben die Kraft dazu. Denn auch das ist eine Botschaft von Weihnachten.
Weihnachten sagt auch zur Welt da draußen: Kommt zusammen und feiert das Leben. Feiert die Familie. Feiert, dass ihr nicht alleine seid, sondern liebe Menschen habt, die Euch verwandtschaftlich und/oder freundschaftlich verbunden sind. Denn: Ihr seid nicht allein. Diese Botschaft spendet auch in unsicheren Zeiten Kraft. Dennoch mag ein freudiges Fest manchem in Gedenken an Opfer und deren Angehörige schwer fallen. Doch da ist noch ein Zweites.
Die christliche Heilsbotschaft von der Geburt des Erlösers enthält auch eine säkulare Hoffnungsbotschaft: Auch im letzten Winkel der Welt und mitten in der Nacht gibt es Auswege aus misslichen Lagen. Im Dunkel lauert nicht nur das Böse. Auch im Dunkel kann man gute Menschen aller Gesellschaftsschichten (Mutter, Zimmermann, Hirten, Gelehrte) finden. Helfen alle diese Menschen zusammen, können sie die Nacht zum Tag machen. Daher kann eine zweite Botschaft lauten: Fürchtet den anderen nicht! Denn dieser andere kann gerade in unsicheren, düsteren Zeiten eine unerwartete Kraftquelle sein.
Fürchtet Euch nicht. Frohe Weihnachten!